Philip Zoubek / Sebastian Gramss / Erwin Ditzner – Ditzners carte blanche Live at Enjoy Jazz Festival 2021
Vinyl fixcel 24
Rel. 1/2024
Vinyl / CD in Kartonstecktasche
Musiker
Erwin Ditzner (dr, electronics)
Mikael Szafirowski (gt, electronics)
Luc Ex (accoustic bass guitar)
Liner Notes von Jan Künemund
wellen.
zum ersten mal habe ich diese musik auf einer fährfahrt von neapel zu den äolischen inseln gehört. das meer war bewegt, das licht gleißend, der eigene standpunkt unruhig. dass sich dieser wahrnehmungsrahmen sofort sehr richtig anfühlte, hatte weniger mit der müden metapher der reise zu tun, oder der ineinanderstürzenden sinnlichen elemente, sondern vielmehr mit der idee, wie das scheinbar gegenläufige, einander herausfordernde, durcheinandergehende zusammenspiel von wind, wellen, licht, improvisierender maschine und verunsicherter wahrnehmung doch mit einer struktur des gleichgewichts zu tun haben könnte, an der all das teil hat.
nicht zum ersten mal haben sich erwin ditzner und sebastian gramss jemanden zur freien gemeinsamen improvisation eingeladen, der/die ein tasteninstrument bedient. das klaviertrio hat im jazz eine lange tradition, ist quasi ein formatklassiker, was mich nach wie vor wundert. ein derart komplettes instrument wie das klavier, dessen unterer tonbereich den bass, dessen perkussivität das schlagzeug ersetzen kann und doch so anders klingt, verschmilzt nicht, es steht frei. vor allem, wenn man die klangpalette so sehr erweitert hat wie philip zoubek, der es präpariert, um einen synthesizer erweitert, zwischen konkreter musik, interlocked grooves, bleyscher coolness und spätromantischer extase fließend wechseln kann. was er hier anbietet, verschmilzt nicht, trotz der perkussiven und manipulierten antworten des basses, trotz der ureigenen materialbehandlung ditzners, dessen sounds oft von sich aus wie das spratzen und knistern primitiver synthesizer klingen. die drei könnten ineinander aufgehen, verwirrspiele betreiben, ihre quellen verschleiern, eine gleichform bilden. aber: nichts ist gleichförmig hier, nie fallen sie gemeinsam in einen geraden groove, einen gespielten witz, eine stringente erzählung. auf ganz unterschiedliche weise greifen sie von drei seiten die oberflächenspannung der situation an, setzen störungen, im vertrauen darauf, dass sich an anderer stelle, meist ziemlich schnell, das gleichgewicht wiederherstellt. eine welle ist eine störung, die sich wieder fängt. sie kann kurz sein, lang sein, im wasser schaum schlagen, berge und täler bilden, gleichmäßig rollen, abprallen. vom liegestuhl auf
festem boden aus ist sie nicht verständlich. hängt man drinnen, noch weniger, doch dann kommt die lust dazu, die eigene, scheinbar chaotische bewegung zu fühlen, die permanent darauf reagieren muss. war das nicht eine melodie gerade? hat mein körper nicht gerade einen groove gefühlt? knarzte da gerade ein blech links hinten, oder direkt vor mir eine elektrische entladung?
die schönste form, eine freie jazzimprovisation zu hören, ist nicht der ohrensessel, sondern aus einem publikum heraus, das sich auf verschiedene weise mitbewegt (im zweiten stück fällt am anfang eine flasche um). klar, ihr habt jetzt die platte aufgelegt, im sessel platz genommen und lest dazu den text, das ist ein widerspruch, sorry – aber man kann sich ja was vorstellen oder lautstärke und stereo nutzen. und dankbar sein dafür, dass fixcel diese carte blanche auftritte von erwin ditzner und sebastian gramss so transparent und immersiv dokumentiert.
ich könnte jetzt noch von strudeln schreiben, von sicheren und unsicheren gewässern, von hafeneinfahrten und sonnenuntergängen und flauten und vertäuten schlussmomenten (kann man alles hören), aber mir wirbelt die erinnerung ins nochmalhören, dass meine fährfahrt durch starken wind an den zwei tagen zuvor ausgefallen war. prekär floss das alles in diesem moment zusammen, in dem mich die musik ergriffen, umhergeschleudert, umspült hat: dass die maschine überhaupt angeworfen wurde, die wellen gerade tief genug waren, das licht reichte und ich die abfahrt nicht verpasst habe. und keine andere musik auf meinem handy hatte. durch viele strudel hindurch das gleichgewicht verlieren. das. ist. live.
Info
Aufgenommen am 30. Oktober 2021 in der Alten Feuerwache Mannheim, Enjoy Jazz Festival
Live-Recording: Thilo Klag / Mix: Robert Nacken / Mastering: Lopazz
Liner Notes: Jan Künemund, Fotografie, Grafik & Layout: Frank Schindelbeck
Gefördert von emtechnik – herzlichen Dank an Michael Meier (em-technik.de)
»Jeder Auftritt von Erwin Ditzner bei Enjoy Jazz gleicht einem Drahtseilakt ohne Sicherheitsnetz.
Denn alle „Carte Blanche“-Konzerte des Ludwigshafener Schlagzeugers sind ohne große Absprachen völlig frei improvisiert. Immer wieder stellt man dabei als Zuhörer aber mit Verblüffung fest, wie sich aus purer Intuition heraus Formen und Strukturen wundersam entwickeln. Das war auch 2021 so, als Ditzner mit dem Bassisten Sebastian Gramss und dem Pianisten Philip Zoubek in der Alten Feuerwache Mannheim gastierte. (…) Es passiert mächtig viel auf dieser wunderbaren Platte.«
(Georg Spindler)